Hürdenlauf bis zur Anmeldung

Verwaltung Eine „Modernisierungsagenda“ hat die Bundesregierung beschlossen. Digitalisierung ist ein Baustein. Aber was bedeutet das konkret? Drei Beispiele aus dem Alltag.

Von einer „Modernisierung, die nichts kostet“ spricht Kanzleramtsminister Thorsten Frei (CDU): Gemeint ist der „umfassende Rückbau der Bürokratie“, den Union und SPD sich im Koalitionsvertrag vorgenommen hatten. Leisten soll das vor allem das neue Staatsmodernisierungs-Ministerium mit dem früheren Manager Karsten Wildberger (CDU) an der Spitze. Sein Plan heißt „Modernisierungsagenda“. Dieser „kraftvolle Aufschlag“, so der Wirtschaftsverband DIHK, müsse jetzt aber auch umgesetzt werden. „Die bisherige Erfahrung zeigt, dass sehr gute Ideen oft an wenigen Einzelinteressen oder Bedenken scheitern können“, warnt Hauptgeschäftsführerin Helena Melnikov. Drei Beispiele:

Wenn der Bürger sein Auto im Internet anmelden will: Ein paar Daten eingeben, klicken, fertig – Autoanmeldung vom Sofa aus versprach die Regierung schon vor Jahren. Vollumfänglich möglich ist die internetbasierte Fahrzeugzulassung (i-KfZ) seit 2023, aber nicht mal 16 Prozent der Meldungen werden digital erledigt.

Bislang also nicht gerade ein Erfolgsmodell. Was unter anderem daran liegt, dass das Verfahren eben nicht vollständig digitalisiert ist, sondern der Bürger zum Beispiel verdeckte Sicherheitscodes auf Plaketten und Papieren buchstäblich freikratzen muss, um sich und sein Fahrzeug zu identifizieren. Hinzu kommt: In Deutschland gibt es rund 400 Zulassungsstellen mit jeweils eigenen Portalen. Diese haben wahlweise mit Softwareproblemen, fehlendem Personal oder den hohen Sicherheitsstandards zu kämpfen.

Die Lösung von Schwarz-Rot lautet daher: Zentralisierung. „Wenn Bürgerinnen und Bürger ihr Fahrzeug online an-, ab- und ummelden wollen, soll das künftig zentral über das Kraftfahrtbundesamt möglich sein“, teilte die Bundesregierung mit. Die Zulassungsbehörden würden so erheblich entlastet – und damit auch die Kommunen. Den Bürgern werde zugleich das Leben erleichtert und die Dienstleistung verbilligt. Wildbergers Zeitplan: 18 Monate.

Wenn der Staat seinem Bürger Geld aufs Konto zahlen will: Kassiert der Staat Geld von seinen Bürgern, scheitert dies nur selten an einer fehlenden Kontonummer. Sollte aber umgekehrt der Staat dem Bürger etwas auszahlen, war das bislang – leider, leider – schwierig. Offensichtlich wurde das während der Corona-Pandemie oder der Energie-Krise, als Staatshilfen oft nur über Umwege fließen konnten. Legendär das Eingeständnis des früheren FDP-Finanzministers Christian Lindner vor drei Jahren: Die elfstellige Steuer-Identifikationsnummer jedes Deutschen mit seiner 22 Zeichen umfassenden Kontonummer (IBAN) zusammenzubringen, sei eben „nicht so einfach“.

Inzwischen aber hat das Bundesfinanzministerium Vollzug gemeldet: „Das zum 1. März 2024 eingerichtete Projekt Direktauszahlungsmechanismus (DAM) wurde fristgerecht zum 31. März 2025 erfolgreich abgeschlossen.“ Im Falle künftiger Hilfsbeschlüsse sind demnach „antragsbasierte, unbare und kassensichere Direktauszahlungen“ möglich. Aber, so teilt das Ministerium auf Anfrage mit: „Hier sind die Bürgerinnen und Bürger nun aktiv gefragt“. Sie müssen nämlich entweder ihre Hausbank mit der Übermittlung ihrer IBAN an das Bundeszentralamt für Steuern (BZSt) beauftragen oder diese selbst vornehmen. Das wiederum soll jetzt „benutzerfreundlich“ per App mit dem schon weniger benutzerfreundlichen Namen „BZSt IBAN+“ gehen. Kleiner Hinweis: Benötigt wird dafür entweder ein Elster-Benutzerkonto oder ein Bund-ID-Konto! Erstaunlich ist, dass es dieser offenbar fertige Mechanismus in die Modernisierungsagenda geschafft hat.

Wenn ein Unternehmer sein Unternehmen anmelden will: Eine Idee, eine Garage und los? Von wegen! Wer in Deutschland ein Unternehmen gründet, sollte sich unter anderem mit folgenden Institutionen vertraut machen: Finanzamt, Handelsregister, Handelskammer, Gewerbeaufsicht und Förderbank. „Es ist sinnvoll, sich aus Zeitgründen mit vielen Behörden gleichzeitig zu beschäftigen“, heißt es mahnend auf einer Ratgeberseite im Auftrag der Bundesregierung.Digital und binnen 24 Stunden?

Auch Unternehmensgründungen sind in Deutschland dezentral organisiert, rund 6000 verschiedene Verfahren gibt es auf kommunaler Ebene. Die Modernisierungsagenda verspricht nun ein „zentrales Webportal zur digitalen Anmeldung“ sowie eine „Unternehmensgründung in 24 Stunden“. Bis es soweit ist, könnte es nach Angaben von Wildberger allerdings noch knapp zwei Jahre dauern. Nicht ausgeschlossen auch, dass es am Ende statt 24 womöglich 48 Stunden sind.

„Wir wollen den großen Wurf“

Thorsten Frei Herbst der Reformen oder Herbst des Streits? Ein halbes Jahr nach dem Start wirkt die Berliner Koalition zunehmend gespalten. Der Kanzleramtschef, ganz Brückenbauer, beschreibt die Zusammenarbeit hingegen als gut. Ein Gespräch über die Frage, was jetzt nötig ist.

Immer tadellos gekleidet, immer tadellose Manieren: Thorsten Frei ist zweifellos einer der freundlichsten Politiker, die in Berlin herumlaufen. Was nicht über seine gelegentliche Härte in der Sache, beispielsweise beim Thema Asyl, hinwegtäuschen sollte. Seine Besucher im Kanzleramt empfängt der 52-Jährige bereits auf dem Flur. Unruhig wird er während des Gesprächs nur einmal, als hinter seinem Rücken die Bürotür aufgeht: Etwa jemand, der ihn überraschend zu einem dringenden Termin scheuchen will? Nein, zum Glück nicht. Es kann weitergehen.

Herr Frei, in einer Schulnote ausgedrückt: Wie ist die Stimmung in der Koalition?

Die Regierung arbeitet sehr gut zusammen. Es ist eine Koalition aus drei unterschiedlichen Parteien, aber allen ist bewusst, dass es um unser Land und seine Menschen geht.

Also Note eins für die Stimmung?

Ich will nichts verklären: Wo gehobelt wird, fallen Späne. Aber die Atmosphäre ist angenehm, und sie ist geprägt vom Willen zum Erfolg. Und genau dieses Vorwärtskommen erwarten die Menschen von ihrer Regierung.

Wie sehr nervt dann so ein Tag wie diese Woche mit dem Wehrdienst-Chaos und neuer Renten-Debatte?

Natürlich ärgert man sich auch mal. Aber nicht jede Debatte ist ein Streit, und niemand kann erwarten, dass Änderungsvorschläge widerspruchslos hingenommen werden. Das Ringen um die beste Idee ist das Wesen der Demokratie.

Was ist Ihr Anteil als Kanzleramtschef an der Gesamtperformance?

Neben der Leitung des Kanzleramtes und der Koordinierung der Nachrichtendienste ist die Steuerung der Bundesregierung meine Hauptaufgabe. Gerade in diesen anspruchsvollen Zeiten ist das mit großer Verantwortung verbunden.

In drei Sätzen: Was macht einen guten Kanzleramtschef aus?

Ein Kanzleramtschef sollte ein vertrauenswürdiger Ansprechpartner für die gesamte Koalition und idealerweise auch darüber hinaus sein. Im besten Fall ein Brückenbauer. Das ist mein Maßstab.

Das ist sicher nicht immer einfach in Zeiten, in denen der Kanzler eine Debatte darüber, was Deutschland sich noch leisten kann, angestoßen hat. Mal ehrlich, befinden wir uns gerade wirklich im Herbst der Reformen – oder vielleicht doch einfach nur im Herbst?

Der Neustart hat begonnen. 109 Gesetze wurden seit Regierungsbeginn auf den Weg gebracht. Da ist der Investitionsbooster, da ist die Unternehmenssteuer, die wir schrittweise senken. Das sind gewaltige Sprünge. Ganz zu schweigen von diversen Maßnahmen, um die Migration zu ordnen, zu steuern und zu begrenzen.

Der Kanzler hat Reformen im Sozialversicherungssystem in Aussicht gestellt, die auch dem Einzelnen etwas abverlangen. Wie lange kann ein Kanzler Veränderungen fordern, ohne konkret zu sagen, was er meint?

Mit der neuen Grundsicherung gehen Reformen einher, die den betroffenen Menschen durchaus etwas abverlangen. Dennoch sind diese Schritte richtig und notwendig. Denn es geht darum, dass wieder mehr Menschen, die heute auf Unterstützung der Allgemeinheit angewiesen sind, ihren Lebensunterhalt durch Arbeit selbst verdienen.

Wir haben nach den Sozialversicherungen gefragt.

Der Reformbedarf ist enorm. Mit Schnellschüssen ist es nicht getan. Wir haben für Gesundheit und Pflege Reformkommissionen beziehungsweise Arbeitsgruppen eingesetzt und werden das bis Ende des Jahres auch für die Rente tun. Die Neuordnung des Sozialversicherungssystems lässt sich nicht aufschieben. Jetzt geht es um Ergebnisse, die noch in dieser Legislaturperiode gesetzgeberisch umgesetzt werden müssen.

Was trauen Sie sich zu? Werden die Sozialbeiträge im Laufe der Legislaturperiode sinken oder wenigstens stabil bleiben?

Wir haben uns immer an der „Schallmauer“ von insgesamt 40 Prozent für die Sozialversicherungsbeiträge orientiert. Mittlerweile liegen wir bei 41,9 Prozent. Das ist für die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts ein Riesenproblem. Es ist mit ein Grund dafür, warum wir jeden Monat Tausende Industriearbeitsplätze verlieren. Das müssen wir dringend ändern.

Aber nochmal: Was trauen Sie sich zu? Stehen wir zum Ende der Legislatur wieder bei 40 Prozent oder gar darunter?

Es muss uns gelingen, die Sozialbeiträge zunächst zu stabilisieren und dann auch wieder zu reduzieren. Und wir müssen die Weichen so stellen, dass die Beiträge in unserem Land den demografischen Wandel meistern können und die Sozialbeiträge bezahlbar bleiben. Daran müssen wir uns messen lassen.

Wie wollen Sie es schaffen, dass die Menschen in Reformen nicht zuerst eine Bedrohung sehen, die ihnen womöglich zu viel abverlangt? Wie wollen Sie einen positiven Spirit schaffen?

Übers Machen. Was wir brauchen, ist ein positives Zielbild. Wir müssen Reformen hinbekommen und so die Wirtschaft wieder in Gang bringen. Wenn die Medizin wirkt, schmeckt sie gleich weniger bitter.

Lassen Sie uns konkret über das Gesundheitssystem sprechen. Was muss geschehen, außer wie nun geplant den Kassenbeitrag der Versicherten durch Steuermittel zu stabilisieren?

Es geht um Effizienz. Für Gesundheit geben wir in Deutschland pro Tag im Durchschnitt 1,5 Milliarden Euro aus. Das sind etwa 500 Milliarden Euro im Jahr, allein die Ausgaben für die gesetzliche Krankenversicherung lagen 2024 bei rund 330 Milliarden. Damit haben wir in Europa das teuerste Gesundheitssystem – mit nur mäßigen Ergebnissen, wenn man sich zum Beispiel die Lebenserwartung und die gesunden Lebensjahre anschaut. Wir müssen prüfen, ob medizinische Leistungen in Deutschland zu teuer sind – oder unverhältnismäßig oft zum Einsatz kommen. Nur ein Beispiel: Es gibt hierzulande deutlich mehr Knieoperationen als in anderen Ländern. Glaubt irgendjemand, das liegt an den deutschen Knien?

Aber kann höhere Effizienz alle Probleme lösen, ohne dass irgendwer dabei Abstriche hinnehmen muss?

Nein. Es geht auch um mehr Eigenverantwortung. Dazu gibt es ja unterschiedliche Ideen. So wird zum Beispiel bereits über höhere Zuzahlungen diskutiert, da diese Sätze in den vergangenen 20 Jahren nicht mehr angepasst wurden. Auch muss uns zu denken geben, dass wir in Deutschland bei den Krankentagen im europäischen Vergleich an der Spitze liegen. Auch hier gilt: Ich glaube nicht, dass man das medizinisch begründen kann.

Was ist Ihre Lösung?

Die Reformkommissionen brauchen freie Hand. Es darf keine Denkverbote geben. Wir wollen, Pathos hin oder her, den großen Wurf. Und es muss eine Lösung sein, die allen etwas abverlangt, damit sie als gerecht empfunden wird. Deshalb muss man den Kommissionen auch etwas Zeit geben.

Schauen wir auf die Rente. Sie sind erst 52, aber wären Sie persönlich bereit, über das Rentenalter von 67 Jahren hinaus weiterzuarbeiten?

Sehr gern sogar. Es ist noch eine Weile hin, aber ich sehe nicht, warum ich mit 67 Jahren aufhören sollte. Ich arbeite mit Freude – und das war schon immer so. Mir ist aber bewusst, dass das nicht jeder tun kann. Als Schüler und Student verdiente ich mein Geld als Briefträger oder in der Fabrik. Auch aus dieser Erfahrung heraus habe ich großen Respekt vor den Leistungen in anderen Berufen – und dem, was sie einem abverlangen. Mir ist sehr bewusst, dass die physische und psychische Belastung in manchen Berufen enorm hoch ist.

Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?

Wir müssen Wege finden, im Rentensystem nicht alle Berufe und Biografien über einen Leisten zu schlagen. Es macht doch einen Unterschied, ob jemand einen Beruf ausübt, der ihn körperlich stark fordert, oder einen, in dem er durch Erfahrung immer besser wird. Deshalb schaffen wir durch die Aktivrente Anreize, länger als bis zum gesetzlichen Renteneintrittsalter zu arbeiten – für diejenigen, die das können und wollen.

Die Menschen sollen also unterschiedlich behandelt werden?

Ja. Gleiches muss gleich, Ungleiches ungleich behandelt werden. Es macht doch einen Unterschied, ob jemand mit 16 Jahren seine Arbeit aufgenommen hat oder mit 30.

Sie selbst haben vor 30 Jahren Ihren Wehrdienst geleistet. Wünschen Sie sich angesichts der Sicherheitslage insgeheim, dass Ihre eigenen Kinder sich anders entscheiden?

Wenn uns unser Land und unsere freiheitliche Art zu leben etwas wert sind, dann müssen wir auch bereit sein, das zu verteidigen. Klar ist: Die Möglichkeit, diese Aufgabe an andere auszulagern, wird es nicht mehr geben. Aber zu Ihrer Frage: Ich habe zwei Töchter und einen 16-jährigen Sohn, der demnächst von dem neuen Wehrdienst betroffen sein könnte. Als Vater beschäftige ich mich mit der Frage naturgemäß anders als damals, als es um meinen eigenen Wehrdienst ging. Und meine Frau wiederum argumentiert noch einmal anders als ich.

Höchste Zeit also für eine bessere und stärkere Bundeswehr, oder?

Leider zeigt uns Russland immer wieder, zu was es willens ist. Und nach übereinstimmenden Analysen könnte Moskau auch einen Vorstoß gegen ein Nato-Land wagen. Daher teilen wir in der Koalition alle das Ziel, die Bundeswehr schnell verteidigungsfähig zu machen. Die finanziellen Voraussetzungen haben wir bereits geschaffen – und die personelle Komponente wird über das Wehrdienstgesetz abgebildet. Kurz gesagt: Wir müssen uns verteidigen können, damit wir uns nicht verteidigen müssen.

Und genau da scheiterte diese Woche die eigentlich schon in Aussicht gestellte Einigung zwischen SPD und Union.

Das Wehrdienstgesetz wurde im August vom Kabinett beschlossen und befindet sich in diesen Wochen im parlamentarischen Verfahren. Angesichts der Bedrohungslage ist allen bewusst, dass wir das Verfahren schnell abschließen müssen. Fakt ist, dass wir die angestrebte Zahl von insgesamt 460.000 Soldatinnen und Soldaten in der Bundeswehr und in der Reserve noch längst nicht erreicht haben. Das dürfen wir nicht schleifen lassen.

Wenn Donald Trumps Friedensplan im Nahen Osten dauerhaft aufgeht, hat der US-Präsident dann im nächsten Jahr den Friedensnobelpreis verdient?

Dem US-Präsidenten ist im Nahen Osten etwas Großes gelungen. Daran besteht für mich überhaupt kein Zweifel, auch wenn die Lage vor Ort sehr fragil ist. Wir müssen nun aber alles dafür tun, dass uns diese Chance nicht aus den Händen gleitet. Darüber hinaus haben wir in Europa natürlich auch die Hoffnung, dass sich der Chef des Weißen Hauses mit dem Krieg in der Ukraine künftig ebenso engagiert auseinandersetzt.

Also auch deutsche Soldaten zur Absicherung entsenden?

Da wäre ich sehr skeptisch. Die Frage stellt sich jetzt aber auch nicht.

Kommentar

Schwieriges Los

Im Streit um die Wehrpflicht zeigt sich: Die Partei hat noch nicht zu einer neuen Ordnung gefunden. Das muss sich schnell ändern.

Es gibt eine treffende umgangssprachliche Wendung, um angeberisches Verhalten zu beschreiben. „Einen auf dicke Hose machen“, lautet sie. Und es handelt sich insbesondere dann um einen lächerlichen Vorgang, wenn man gar keine Hose trägt. So ist es mit der SPD in den Monaten seit der Bundestagswahl.

Hier die Profis, da die Amateure: So haben Sozialdemokraten schon früh gern die Kompetenzverteilung zwischen sich selbst und der Union beschrieben. Der Truppe um Kanzler Friedrich Merz fehle es an Erfahrung, hieß es immer wieder. Das Drama um die Verfassungsrichterwahl hat diese Annahme ja auch bestätigt.

Doch im Streit über die Wehrpflicht zeigt sich: Auch in der SPD fehlt es an guten Mechanikern der Macht und einer klaren Idee, wohin die Partei inhaltlich will. Fraktionschef Matthias Miersch und Verteidigungsminister Boris Pistorius haben sich nicht ausreichend abgestimmt. Miersch hat die Stimmung in der eigenen Fraktion offenkundig völlig falsch eingeschätzt. Und dann war das Chaos schnell perfekt.

Soll notfalls ausgelost werden, welche jungen Männer zur Bundeswehr müssen? Das ist eine schwierige Frage, bei der es nicht nur um die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands geht, sondern auch um den Umgang mit Grundrechten. Es ist erstaunlich, dass offenbar weder der Fraktionsführung noch der SPD-Spitze hinreichend klar war, dass eine solche Idee zu harten Debatten unter den Abgeordneten führen würde.

In der vergangenen Legislaturperiode hat die SPD-Fraktion den drögen Kanzler Olaf Scholz mit großer Solidarität ertragen. Dass nun in der SPD-Fraktion ein Bedürfnis nach mehr Eigenleben erwacht, ist verständlich. Es erschwert aber das Regieren. Das gilt auch für die Tatsache, dass die Unions-Fraktion kein reiner Kanzlerunterstützungsverein mehr ist. Der Druck zur Eigenprofilierung ist für die Union wie für die SPD groß – wie auch die Notwendigkeit, gemeinsam zu Ergebnissen zu kommen.

Das Land kommt seit Jahren nicht aus der Wirtschaftskrise und braucht dringend Reformen in den Sozialversicherungen. Vize-Kanzler Lars Klingbeil und seine Co-Parteichefin Bärbel Bas haben das zwar beide erkannt. Sie haben aber unterschiedliche Vorstellungen davon, was sie der eigenen Parteibasis zumuten können.Klingbeil ist klarer auf Reformkurs als Bas. Er ist aber angezählt, seit ihn der SPD-Parteitag mit einem Ergebnis von knapp 65 Prozent abgestraft hat. Bas tastet sich noch an die Frage heran, ob sie die SPD wirklich führen oder ihr nur vorstehen will.

Und Verteidigungsminister Boris Pistorius? Er ist noch immer der beliebteste Politiker Deutschlands. Dieser Status könnte aber einen Knacks bekommen, wenn er als Minister inhaltlich weiter auf der Stelle tritt. Die Partei mochte ohnehin nie in erster Linie Pistorius, sondern vor allem die Tatsache, dass er bei den Menschen im Land beliebt ist.

Es sind schwierige Bedingungen, unter denen die SPD zu einer klaren Linie finden muss. Dringend notwendig ist es aber. Es darf nicht der Eindruck entstehen, als könnte man die Antwort auf die Frage, wofür die SPD steht, auch auslosen.

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Kommentar

Schnelle Prüfung?

Bundesverkehrsminister Patrick Schnieder (CDU) möchte insbesondere den jungen Leuten im ländlichen Raum helfen, per Führerschein mobil zu sein. Angesichts rasant gestiegener Kosten in den vergangenen Jahren eine gute Idee. Aber wird das funktionieren?

Keine Frage: Den Führerschein zu machen, ist sehr teuer geworden. Und häufig dauert es lange, bis man das Dokument in den Händen hält. Dass es billiger und schneller etwas wird, dafür will Bundesverkehrsminister Patrick Schnieder (CDU) sorgen. Er hat dabei gerade den ländlichen Raum im Blick, wo ein Auto häufig unverzichtbar ist, während es sich in der Großstadt gut ohne Fahrzeug leben lässt. Aber auch Städter können einen Führerschein durchaus gebrauchen. Und wenn es nur für den Mietwagen am Urlaubsort ist.

Jetzt jedenfalls gibt es konkrete Vorschläge. Dass etwa mehr Fahrsimulatoren helfen können, darin sind sich Experten einig. Die Technik kann dazu beitragen, sich virtuell an den Straßenverkehr heranzutasten und zudem die Abstände zwischen den Fahrstunden zu verkürzen, was den Lerneffekt befördert. Den Katalog der möglichen Fragen der Theorieprüfung von fast 1200 um ein Drittel einzudampfen, erleichtert den Zugang ganz sicher. Und dass man dafür auf der Couch in der App pauken soll, statt immer in der Fahrschule auftauchen zu müssen, ebenso. Klar ist aber auch: Dass deshalb die Durchfallquote sinkt, ist damit nicht gesagt. Man muss in der App wirklich üben.

Streiten kann man darüber, ob eine praktische Prüfung mit einer Fahrzeit von 25 Minuten ausreicht. Schließlich sind es bisher 45 Minuten. Aber die 25 Minuten sind das, was die EU als Minimum fordert. Und es erhöht die Chance, überhaupt einen Prüfungstermin zu bekommen.

Das ist erst einmal ein Aufschlag, der jungen Leuten den Führerschein erreichbarer machen kann. Aber noch ist es nicht so weit. Jetzt reden Bundesländer und Experten mit. Und die bremsen die Reform hoffentlich nicht noch aus.

Regelverschärfung für Parlamentarier

Bundestag Abgeordnete, die sich den parlamentarischen Regeln widersetzen, müssen laut neuer Geschäftsordnung mit schärferen Sanktionen rechnen. Das kann richtig teuer werden.

Berlin. Im Bundestag soll es künftig gesitteter zugehen. Gegen Pöbeleien, Zwischenrufe oder anderes Verhalten, das mit der Würde des Hohen Hauses unvereinbar ist, stehen nun robustere Mittel zur Verfügung. Grundlage dafür ist eine Anpassung der Geschäftsordnung, die am Donnerstag vom Bundestag beschlossen wurde. Ein Kernpunkt sind verschärfte Regeln für Ordnungsrufe und Ordnungsgelder.

Die alte Geschäftsordnung stammte aus dem Jahre 1980. Das war im Westdeutschland keine politisch gemütliche Zeit. Damals bewegten die Debatten um Rüstung und Nachrüstung die Bundesrepublik und führten zu durchaus heftigen Parlamentsdebatten. Dennoch steht der Bundestag heute vor neuen Herausforderungen. Mit dem Einzug der Rechtspopulisten ins Parlament sind die Debatten härter, der Ton rauer und die Wortwahl extremer geworden. Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) erteilte in der noch jungen Wahlperiode bislang 13 Ordnungsrufe, 12 davon an die AfD. Auch in den Ausschüssen geht es mitunter hoch her.

Nun gibt es einen strengeren Sanktionsmechanismus: Ist ein Redner während einer Rede dreimal wegen Abschweifungen „zur Sache“ gerufen worden, entzieht ihm der sitzungsleitende Präsident das Wort. Ist ein Abgeordneter dreimal während einer Sitzung zur Ordnung gerufen worden, wird er künftig für die Dauer der Sitzung aus dem Saal verwiesen. Gegen einen Abgeordneten, der innerhalb von drei Sitzungswochen dreimal zur Ordnung gerufen wurde, wird der Präsident mit dem dritten Ordnungsruf zugleich ein Ordnungsgeld von 2000 Euro, im Wiederholungsfall 4000 Euro festsetzen. Das entspricht einer Verdoppelung der bisherigen Sätze.

Bisherige Sätze verdoppelt

Die Bundestagspräsidentin oder die sitzungsleitenden Stellvertreter haben weiterhin einen breiten Spielraum bei der Erteilung von Ordnungsrufen. Es gibt keine Liste von „unsagbaren“ Ausdrücken oder Formulierungen. Die neue Geschäftsordnung belässt es bei der Feststellung, dass die Parlamentsrede „von gegenseitigem Respekt und der Achtung der anderen Mitglieder des Bundestages sowie der Fraktionen geprägt sein“ soll.

Zu den robusteren Werkzeugen des Bundestages gehört nun auch Regelungen für Wahl und Abwahl von Bundestagsvizepräsidenten. Das hat einen konkreten Hintergrund: Immer wieder war die AfD mit ihren vorgeschlagenen Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten gescheitert. Künftig gilt nun diese Regelung: Wenn eine Fraktion dreimal mit Vorschlägen für das Amt gescheitert ist, braucht sie künftig für die Einbringung eines erneuten Wahlvorschlags ein Quorum von einem Viertel der Abgeordneten des Bundestags. Neu geregelt sind die Verfahren zur möglichen Abwahl von Vize-Präsidenten und Ausschussvorsitzenden. Darüber kann nur abgestimmt werden, wenn die Hälfte der Abgeordneten dafür sind.

AfD fühlt sich bestätigt

Parteien Die CDU diskutiert über einen neuen Umgang mit den Rechtspopulisten. Erfahrungen gibt es aus anderen Ländern.

Berlin. „Die Art und Weise, wie alle anderen Parteien in den vergangenen Jahren mit der AfD umgegangen sind, hat nicht dazu geführt, dass sie schwächer wurde.“ Diese ernüchternde Bilanz des sächsischen CDU-Generalsekretärs Tom Unger in der „Bild“ sorgt in der Union für Debatten über die Brandmauer zu der in Teilen rechtsextremen Partei. Das Dilemma ist offensichtlich: Die eigene Basis wird ungeduldiger ob der Kompromisse, die Kanzler Friedrich Merz in der Koalition mit der SPD eingehen muss. Gleichzeitig würde eine Öffnung zur AfD die Union spalten.

Wenig überraschend fühlt sich die AfD durch die Debatte bestätigt. „Es ist sehr erfreulich, dass einzelne Köpfe in der Union die Vernunft und demokratische Selbstverständlichkeiten in den Vordergrund stellen“, sagt Parteichefin Alice Weidel dieser Zeitung. Es werde sich zeigen, ob auch das CDU-Präsidium bereit sei, den Weg der undemokratischen Brandmauer zu verlassen.

Ihr Stellvertreter Peter Boehringer erklärt: „Die Union muss sich – statt die Brandmauer immer höher und absurder zu ziehen – inhaltlich in ihren Lebenslügen um fast 180 Grad bewegen. Andernfalls wird sie bald unter 20 Prozent und dann weiter in die dauerhafte Bedeutungslosigkeit fallen.“ Dieser inhaltliche Schwenk, glaubt Boehringer, werde die Brandmauer zum Verschwinden bringen.

In der AfD setzt man darauf, dass der Nachfolger von Friedrich Merz die Mehrheit im Bundestag nicht mehr links, sondern rechts sucht. Inwiefern die AfD dadurch schwächer würde, ist offen. Eine Studie der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung hat entsprechende Kooperationen in zehn europäischen Ländern untersucht – und dabei wenige Konstellationen gefunden, die für die konservativen Parteien gut ausgegangen sind. Allerdings nennen die Studienautoren auch zwei Beispiele, die den Brandmauer-Gegnern Mut machen könnten. Die spanischen Konservativen hätten der rechtspopulistischen Vox erfolgreich Paroli geboten. „Auch wenn in manchen Regionen eine Kooperation mit Vox eingegangen wurde, geschah dies stets unter PP-Führung. Vox bekam sekundäre Ressorts, verlor an Profil – und damit weiter an Zustimmung“, heißt es.

In Finnland habe der Ansatz der Konservativen in der Regierung mit den Rechtspopulisten, Nulltoleranz bei rassistischen oder demokratiefeindlichen Entgleisungen zu zeigen und rote Linien bei Verfassungsfragen zu ziehen, dazu geführt, dass demokratische Mindeststandards gesichert wurden.

Klar ist: Die AfD will vorbereitet sein. Sebastian Münzenmaier – Fraktionsvize und Weidel-Vertrauter – besuchte in dieser Woche die österreichische FPÖ in Wien. Laut „Table.Briefings“ ging es bei dem Treffen auch darum, wie man als Rechtsaußen-Partei in Koalitionsverhandlungen zieht.

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