„Wir wollen den großen Wurf“
Thorsten Frei Herbst der Reformen oder Herbst des Streits? Ein halbes Jahr nach dem Start wirkt die Berliner Koalition zunehmend gespalten. Der Kanzleramtschef, ganz Brückenbauer, beschreibt die Zusammenarbeit hingegen als gut. Ein Gespräch über die Frage, was jetzt nötig ist.
Immer tadellos gekleidet, immer tadellose Manieren: Thorsten Frei ist zweifellos einer der freundlichsten Politiker, die in Berlin herumlaufen. Was nicht über seine gelegentliche Härte in der Sache, beispielsweise beim Thema Asyl, hinwegtäuschen sollte. Seine Besucher im Kanzleramt empfängt der 52-Jährige bereits auf dem Flur. Unruhig wird er während des Gesprächs nur einmal, als hinter seinem Rücken die Bürotür aufgeht: Etwa jemand, der ihn überraschend zu einem dringenden Termin scheuchen will? Nein, zum Glück nicht. Es kann weitergehen.
Herr Frei, in einer Schulnote ausgedrückt: Wie ist die Stimmung in der Koalition?
Die Regierung arbeitet sehr gut zusammen. Es ist eine Koalition aus drei unterschiedlichen Parteien, aber allen ist bewusst, dass es um unser Land und seine Menschen geht.
Also Note eins für die Stimmung?
Ich will nichts verklären: Wo gehobelt wird, fallen Späne. Aber die Atmosphäre ist angenehm, und sie ist geprägt vom Willen zum Erfolg. Und genau dieses Vorwärtskommen erwarten die Menschen von ihrer Regierung.
Wie sehr nervt dann so ein Tag wie diese Woche mit dem Wehrdienst-Chaos und neuer Renten-Debatte?
Natürlich ärgert man sich auch mal. Aber nicht jede Debatte ist ein Streit, und niemand kann erwarten, dass Änderungsvorschläge widerspruchslos hingenommen werden. Das Ringen um die beste Idee ist das Wesen der Demokratie.
Was ist Ihr Anteil als Kanzleramtschef an der Gesamtperformance?
Neben der Leitung des Kanzleramtes und der Koordinierung der Nachrichtendienste ist die Steuerung der Bundesregierung meine Hauptaufgabe. Gerade in diesen anspruchsvollen Zeiten ist das mit großer Verantwortung verbunden.
In drei Sätzen: Was macht einen guten Kanzleramtschef aus?
Ein Kanzleramtschef sollte ein vertrauenswürdiger Ansprechpartner für die gesamte Koalition und idealerweise auch darüber hinaus sein. Im besten Fall ein Brückenbauer. Das ist mein Maßstab.
Das ist sicher nicht immer einfach in Zeiten, in denen der Kanzler eine Debatte darüber, was Deutschland sich noch leisten kann, angestoßen hat. Mal ehrlich, befinden wir uns gerade wirklich im Herbst der Reformen – oder vielleicht doch einfach nur im Herbst?
Der Neustart hat begonnen. 109 Gesetze wurden seit Regierungsbeginn auf den Weg gebracht. Da ist der Investitionsbooster, da ist die Unternehmenssteuer, die wir schrittweise senken. Das sind gewaltige Sprünge. Ganz zu schweigen von diversen Maßnahmen, um die Migration zu ordnen, zu steuern und zu begrenzen.
Der Kanzler hat Reformen im Sozialversicherungssystem in Aussicht gestellt, die auch dem Einzelnen etwas abverlangen. Wie lange kann ein Kanzler Veränderungen fordern, ohne konkret zu sagen, was er meint?
Mit der neuen Grundsicherung gehen Reformen einher, die den betroffenen Menschen durchaus etwas abverlangen. Dennoch sind diese Schritte richtig und notwendig. Denn es geht darum, dass wieder mehr Menschen, die heute auf Unterstützung der Allgemeinheit angewiesen sind, ihren Lebensunterhalt durch Arbeit selbst verdienen.
Wir haben nach den Sozialversicherungen gefragt.
Der Reformbedarf ist enorm. Mit Schnellschüssen ist es nicht getan. Wir haben für Gesundheit und Pflege Reformkommissionen beziehungsweise Arbeitsgruppen eingesetzt und werden das bis Ende des Jahres auch für die Rente tun. Die Neuordnung des Sozialversicherungssystems lässt sich nicht aufschieben. Jetzt geht es um Ergebnisse, die noch in dieser Legislaturperiode gesetzgeberisch umgesetzt werden müssen.
Was trauen Sie sich zu? Werden die Sozialbeiträge im Laufe der Legislaturperiode sinken oder wenigstens stabil bleiben?
Wir haben uns immer an der „Schallmauer“ von insgesamt 40 Prozent für die Sozialversicherungsbeiträge orientiert. Mittlerweile liegen wir bei 41,9 Prozent. Das ist für die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts ein Riesenproblem. Es ist mit ein Grund dafür, warum wir jeden Monat Tausende Industriearbeitsplätze verlieren. Das müssen wir dringend ändern.
Aber nochmal: Was trauen Sie sich zu? Stehen wir zum Ende der Legislatur wieder bei 40 Prozent oder gar darunter?
Es muss uns gelingen, die Sozialbeiträge zunächst zu stabilisieren und dann auch wieder zu reduzieren. Und wir müssen die Weichen so stellen, dass die Beiträge in unserem Land den demografischen Wandel meistern können und die Sozialbeiträge bezahlbar bleiben. Daran müssen wir uns messen lassen.
Wie wollen Sie es schaffen, dass die Menschen in Reformen nicht zuerst eine Bedrohung sehen, die ihnen womöglich zu viel abverlangt? Wie wollen Sie einen positiven Spirit schaffen?
Übers Machen. Was wir brauchen, ist ein positives Zielbild. Wir müssen Reformen hinbekommen und so die Wirtschaft wieder in Gang bringen. Wenn die Medizin wirkt, schmeckt sie gleich weniger bitter.
Lassen Sie uns konkret über das Gesundheitssystem sprechen. Was muss geschehen, außer wie nun geplant den Kassenbeitrag der Versicherten durch Steuermittel zu stabilisieren?
Es geht um Effizienz. Für Gesundheit geben wir in Deutschland pro Tag im Durchschnitt 1,5 Milliarden Euro aus. Das sind etwa 500 Milliarden Euro im Jahr, allein die Ausgaben für die gesetzliche Krankenversicherung lagen 2024 bei rund 330 Milliarden. Damit haben wir in Europa das teuerste Gesundheitssystem – mit nur mäßigen Ergebnissen, wenn man sich zum Beispiel die Lebenserwartung und die gesunden Lebensjahre anschaut. Wir müssen prüfen, ob medizinische Leistungen in Deutschland zu teuer sind – oder unverhältnismäßig oft zum Einsatz kommen. Nur ein Beispiel: Es gibt hierzulande deutlich mehr Knieoperationen als in anderen Ländern. Glaubt irgendjemand, das liegt an den deutschen Knien?
Aber kann höhere Effizienz alle Probleme lösen, ohne dass irgendwer dabei Abstriche hinnehmen muss?
Nein. Es geht auch um mehr Eigenverantwortung. Dazu gibt es ja unterschiedliche Ideen. So wird zum Beispiel bereits über höhere Zuzahlungen diskutiert, da diese Sätze in den vergangenen 20 Jahren nicht mehr angepasst wurden. Auch muss uns zu denken geben, dass wir in Deutschland bei den Krankentagen im europäischen Vergleich an der Spitze liegen. Auch hier gilt: Ich glaube nicht, dass man das medizinisch begründen kann.
Was ist Ihre Lösung?
Die Reformkommissionen brauchen freie Hand. Es darf keine Denkverbote geben. Wir wollen, Pathos hin oder her, den großen Wurf. Und es muss eine Lösung sein, die allen etwas abverlangt, damit sie als gerecht empfunden wird. Deshalb muss man den Kommissionen auch etwas Zeit geben.
Schauen wir auf die Rente. Sie sind erst 52, aber wären Sie persönlich bereit, über das Rentenalter von 67 Jahren hinaus weiterzuarbeiten?
Sehr gern sogar. Es ist noch eine Weile hin, aber ich sehe nicht, warum ich mit 67 Jahren aufhören sollte. Ich arbeite mit Freude – und das war schon immer so. Mir ist aber bewusst, dass das nicht jeder tun kann. Als Schüler und Student verdiente ich mein Geld als Briefträger oder in der Fabrik. Auch aus dieser Erfahrung heraus habe ich großen Respekt vor den Leistungen in anderen Berufen – und dem, was sie einem abverlangen. Mir ist sehr bewusst, dass die physische und psychische Belastung in manchen Berufen enorm hoch ist.
Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?
Wir müssen Wege finden, im Rentensystem nicht alle Berufe und Biografien über einen Leisten zu schlagen. Es macht doch einen Unterschied, ob jemand einen Beruf ausübt, der ihn körperlich stark fordert, oder einen, in dem er durch Erfahrung immer besser wird. Deshalb schaffen wir durch die Aktivrente Anreize, länger als bis zum gesetzlichen Renteneintrittsalter zu arbeiten – für diejenigen, die das können und wollen.
Die Menschen sollen also unterschiedlich behandelt werden?
Ja. Gleiches muss gleich, Ungleiches ungleich behandelt werden. Es macht doch einen Unterschied, ob jemand mit 16 Jahren seine Arbeit aufgenommen hat oder mit 30.
Sie selbst haben vor 30 Jahren Ihren Wehrdienst geleistet. Wünschen Sie sich angesichts der Sicherheitslage insgeheim, dass Ihre eigenen Kinder sich anders entscheiden?
Wenn uns unser Land und unsere freiheitliche Art zu leben etwas wert sind, dann müssen wir auch bereit sein, das zu verteidigen. Klar ist: Die Möglichkeit, diese Aufgabe an andere auszulagern, wird es nicht mehr geben. Aber zu Ihrer Frage: Ich habe zwei Töchter und einen 16-jährigen Sohn, der demnächst von dem neuen Wehrdienst betroffen sein könnte. Als Vater beschäftige ich mich mit der Frage naturgemäß anders als damals, als es um meinen eigenen Wehrdienst ging. Und meine Frau wiederum argumentiert noch einmal anders als ich.
Höchste Zeit also für eine bessere und stärkere Bundeswehr, oder?
Leider zeigt uns Russland immer wieder, zu was es willens ist. Und nach übereinstimmenden Analysen könnte Moskau auch einen Vorstoß gegen ein Nato-Land wagen. Daher teilen wir in der Koalition alle das Ziel, die Bundeswehr schnell verteidigungsfähig zu machen. Die finanziellen Voraussetzungen haben wir bereits geschaffen – und die personelle Komponente wird über das Wehrdienstgesetz abgebildet. Kurz gesagt: Wir müssen uns verteidigen können, damit wir uns nicht verteidigen müssen.
Und genau da scheiterte diese Woche die eigentlich schon in Aussicht gestellte Einigung zwischen SPD und Union.
Das Wehrdienstgesetz wurde im August vom Kabinett beschlossen und befindet sich in diesen Wochen im parlamentarischen Verfahren. Angesichts der Bedrohungslage ist allen bewusst, dass wir das Verfahren schnell abschließen müssen. Fakt ist, dass wir die angestrebte Zahl von insgesamt 460.000 Soldatinnen und Soldaten in der Bundeswehr und in der Reserve noch längst nicht erreicht haben. Das dürfen wir nicht schleifen lassen.
Wenn Donald Trumps Friedensplan im Nahen Osten dauerhaft aufgeht, hat der US-Präsident dann im nächsten Jahr den Friedensnobelpreis verdient?
Dem US-Präsidenten ist im Nahen Osten etwas Großes gelungen. Daran besteht für mich überhaupt kein Zweifel, auch wenn die Lage vor Ort sehr fragil ist. Wir müssen nun aber alles dafür tun, dass uns diese Chance nicht aus den Händen gleitet. Darüber hinaus haben wir in Europa natürlich auch die Hoffnung, dass sich der Chef des Weißen Hauses mit dem Krieg in der Ukraine künftig ebenso engagiert auseinandersetzt.
Also auch deutsche Soldaten zur Absicherung entsenden?
Da wäre ich sehr skeptisch. Die Frage stellt sich jetzt aber auch nicht.
Natürlich ärgert man sich auch mal. Aber nicht jede Debatte ist ein Streit.