Erinnerung Auch 80 Jahre nach Kriegsende ist Deutschland rund um den Globus für seine dunkle Vergangenheit bekannt. Sein Umgang damit gilt im Ausland jedoch als vorbildlich, wie Beispiele aus Südostasien zeigen. Die Frage ist nur: wie lange noch?
Auf dem Gelände einer ehemaligen Schule im Zentrum von Phnom Penh schleppt sich Manuel Erbenich durch die gleißende Mittagshitze. Dieser einstige Schulhof in der kambodschanischen Hauptstadt, der später ein Folterhof wurde, ist gefüllt mit Besucherinnen und Besuchern aus aller Welt. Die meisten halten sich einen Audioguide ans Ohr. Um niemanden zu stören, flüstert Manuel Erbenich: „Die Audioguides für dieses Museum hier wurden im Austausch mit uns entwickelt.“ Es herrscht stille Konzentration.
Erbenich arbeitet für den Zivilen Friedensdienst der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), wo er ein Projekt zur Vergangenheitsbewältigung leitet. Dieses Museum namens Tuol Sleng, das jeder Touriguide als eines der wichtigsten in dem südostasiatischen Land listet, würde es ohne die Arbeit von Erbenich und seinen Vorgängerinnen wie Kollegen so nicht geben. Im Audioguide erzählt ein ehemaliger Insasse, wie hier einst gefoltert wurde. Beklemmend nah dran ist man an den Gräueln.
Malus ist auch ein Bonus
In Kambodschas Geschichte gibt es ein dunkles Kapitel: Am Ende eines Bürgerkriegs setzten sich 1975 die Roten Khmer an die Macht, eine sich kommunistisch nennende Terrorgruppe, die eine klassenlose Gesellschaft erzwingen wollte: Sie verbrannte Bücher, schickte Stadtbewohner in die Felder zum Reisanbau. Widersacher wurden in Tuol Sleng, das zuvor eine Schule gewesen war, gefoltert, oder auf einem der „Killing Fields“ getötet. Binnen dreieinhalb Jahren starben so um die zwei Millionen Menschen.
Als Ende der 1990er-Jahre Frieden einkehrte, kam die GIZ, die im Auftrag des deutschen Staates Entwicklungshilfe durchführt, ins Land. „In Kambodscha ist man am deutschen Umgang mit Geschichte sehr interessiert“, berichtet Manuel Erbenich. Hier sei bekannt, dass dieses ferne europäische Land mit totalitären Regimen so seine Expertise hat. „In Tuol Sleng bauen wir ein Archiv auf, als Grundlage für eine Auseinandersetzung mit dem, was hier ab 1975 geschah.“ Mit Schulen wurde auch der Geschichtsunterricht erarbeitet.
Tatsächlich hört man in Kambodscha immer wieder, dass Deutschland als Vorbild gilt für den Umgang mit der eigenen Geschichte. Zwar verbindet man die Nation im Zentrum Europas bis heute auch mit den Gräueln des Zweiten Weltkriegs, der brutalsten Ausprägung des Faschismus inklusive Konzentrationslagern und Holocaust. Doch kurioserweise scheint aus diesem historischen Malus eine Art Bonus geworden zu sein. Und dies nicht nur in Kambodscha.
Im „Nation Brands Index“, einem seit 2005 jährlich unter rund 60.000 Personen durchgeführten Nationenvergleich, der neben diversen Themen auch nach der wahrgenommenen Ehrlichkeit einer Nation gegenüber der eigenen Vergangenheit fragt, landet Deutschland von 60 Ländern auf Platz zwei – die sechs Jahre zuvor war es sogar je Rang eins gewesen.
Mehr noch: Während die Deutschen nach 1945 wegen der Kriegsvergangenheit noch lange Zeit darum kämpfen mussten, in der Welt wieder Ansehen zu erlangen, ist es heute ebendiese Kriegsvergangenheit, die Deutschland eine neue Art von gutem Ruf bereitet. Das Land „verdient viel Lob“, findet der britische Historiker Ian Kershaw wegen der Aufarbeitung. Der US-Schriftsteller Thomas Berger nennt Deutschland gar „globalen Goldstandard für Schuld“. Und jetzt? Macht Deutschland quasi damit Politik. Weltweit.
In Berlin-Mitte nickt Anna Kaminsky, wenn sie an Kambodscha denkt. „Deutschland ist in Sachen Aufarbeitung seiner Geschichte eine Ausnahme“, sagt die Historikerin. „Hier gab es den gesellschaftlichen Konsens, dass wir uns ganz gründlich mit der Geschichte auseinandersetzen müssen.“ Anna Kaminsky ist Direktorin der Stiftung Aufarbeitung, einer in den 1990er-Jahren durch den Bundestag begründeten Institution, die es seither zur Aufgabe hat, das kollektive Erinnern ständig zu befruchten.
So ist Kaminskys Institution ein internationaler Player in Sachen Erinnerungspolitik, von denen es weltweit nicht viele gibt – in Deutschland aber gleich mehrere: Die Stiftung Aufarbeitung bezieht sich auf die SED-Diktatur der DDR, hinzu kommt die vom Land Berlin und dem Bund geführte Stiftung Topographie des Terrors, die NS-Verbrechen dokumentiert. Hinzu kommt die in der Entwicklungszusammenarbeit aktive GIZ. Die Liste ließe sich auf Länder- und Kommunenebene fortführen.
Schon die Vielzahl deutscher Institutionen, die Erinnerungspolitik machen, zeugt von der von Kaminsky betonten Einzigartigkeit. Denn dahinter steckt eine Vielzahl von Diktaturerfahrungen. „Es ist ja nun mal so, dass wir in Deutschland im 20. Jahrhundert zwei Diktaturen hatten“, sagt sie, steht vom Konferenztisch ihres bis unter die Decke mit Büchern vollgestellten Büros auf und bittet ihre Sekretärin im Vorzimmer um die jüngsten Publikationen ihrer Stiftung. „Nach 1945 verlief die Aufarbeitung erstmal sehr zögerlich.“
Deutschlands Staat, Unternehmen und Gesellschaft übten sich lange in Schweigen. Die Nürnberger Prozesse, die Auschwitz-Prozesse, die 68er sorgten für eine schrittweise Konfrontation mit den Naziverbrechen. Mit dem Mauerfall, dem Ende der DDR und damit der Wiedervereinigung habe endlich auch für Fragen der Vergangenheitsbewältigung ein frischer Wind geweht. „Plötzlich herrschte Einigkeit: Die gleichen Fehler wie nach 1945 dürfen wir nicht wieder machen“, sagt Anna Kaminsky.
Die Sekretärin bringt Bücher und Broschüren in den Raum. Eins handelt von der Berliner Mauer, deren Teile in Länder verschenkt wurden, wo mal Diktaturen herrschten. Ein Flyer erklärt den Karl-Wilhelm-Fricke-Preis, der „Auseinandersetzung mit den kommunistischen Diktaturen“ fördert. Dann wäre da das Austauschprogramm „Memory Work“, das „grenzüberschreitende Kooperation bei der Aufarbeitung von Diktaturen und staatlichen Gewalterfahrungen“ unterstützt. Und einiges mehr.
Die Botschaft, die durch diese Institutionen und ihre Aktivitäten spricht: Deutschland kennt sich mit Diktatur und Gewaltverbrechen aus, hat gelernt und kann sein Wissen heute weitergeben. Und diese Message kommt an. Zum Beispiel in Taiwan, der demokratisch regierten Insel vor der Küste Festlandchinas, die bis in die 1980er-Jahre eine Militärdiktatur war, ehe die Zivilgesellschaft die Demokratie erzwang. Heute beraten deutsche Institutionen bei der Öffnung von Archiven des alten Staatsapparats.
Ähnlich sieht es in Südkorea aus, wo ebenso bis in die 1980er-Jahre das Militär regierte. „Heute hat auch jedes Ministerium in Südkorea eine Stelle zur Vorbereitung der Wiedervereinigung mit dem Norden und für Aufarbeitung“, so Anna Kaminsky. Die Stiftung hält hierbei Kontakt. Jene Stellen in Südkorea analysieren den Norden, stellen Pläne für das Szenario einer Wiedervereinigung auf. „Für ein kollektives Heilen ist so etwas von unschätzbarer Bedeutung“, so Anna Kaminsky.
Aufarbeitung als Softpower
Ist Aufarbeitung eine deutsche Softpower? „Kann man wahrscheinlich so sagen“, findet Anna Kaminsky. Wobei sie betont, Erinnerungspolitik gerate nie an ihr Ende. Wie auf den Philippinen, wo bis 1986 eine Militärdiktatur herrschte, was heute in einem Museum dokumentiert werden soll. Doch die Planer werden seit Jahren immer wieder von der Regierung vertröstet. „Bei vielen Menschen entsteht schon der Eindruck, Eröffnung und Aufarbeitung würden vermieden“, sagt Chuck Crisanto, der das Museum konzipiert hat.
Crisanto blickt insofern mit Neid nach Deutschland, wo er im Austausch Aufarbeitung als eine ernste Angelegenheit beobachtet hat. Ein Eindruck, der sich international etabliert hat. Wobei dieses Bild Risse hat. Da sind nicht nur prominente deutsche Institutionen und Individuen, die Aufforderungen, sich ihrer eigenen Arisierungs- und NS-Geschichte zu stellen, immer wieder ausgewichen sind. So etwa die Hertie-Stiftung, der Hamburger Logistikmilliardär Klaus- Michael Kühne und mehrere weitere.
Auch die heutige deutsche Politik wirft Fragen auf: Einerseits wäre da der Aufstieg der AfD, die Faschisten befördert und in Umfragen zuletzt stärkste Kraft wurde. Andererseits erntet Deutschlands Regierung viel Kritik für ihre Unterstützung der Regierung Israels, die auf den Terroranschlag der Hamas vom Oktober 2023 die Zivilbevölkerung vertreibt, beschießt, eine humanitäre Krise hinnimmt.
Die Lehre aus dem Holocaust müssten universelle Werte sein, die für alle gelten, findet etwa Enzo Traverso, Historiker und Professor an der US-amerikanischen Cornell University. Er fällt ein hartes Urteil: „Deutschlands Vergangenheitsbewältigung ist kein Vorbild mehr.“