Marc Kirchs letzter Weg
Freitod Weit über 650.000 Menschen leben mit ME/CFS, doch Forschungsgelder fehlen. Der Tod von Marc Kirch offenbart eines der größten Versäumnisse im Gesundheitssystem, sagen Kritiker.
Es ist ein windiger, grauer Morgen, an dem Marc Kirch von Pflegern auf einer Trage aus dem Zimmer gefahren wird, in dem er sich die letzten zwei Jahre oft wie lebendig begraben fühlte. Er trägt Ohrenschutz und eine große Augenmaske, um sich möglichst gut vor den Außenreizen zu schützen. Zwei Männer schieben ihn in den Krankentransport, die Türen schlagen zu, der Motor startet. Es wird Marc Kirchs letzte Reise werden. Er weiß, in ein paar Stunden wird er tot sein.
Der 51-jährige Bernauer litt seit elf Jahren an ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis /Chronisches Fatigue Syndrom), einer schweren neuroimmunologischen Erkrankung. Vor acht Jahren erhielt er die Diagnose.
Kein Licht, keine Geräusche
Kirch war schwerst betroffen, kämpfte täglich mit den Folgen der Krankheit. Der 51-Jährige war seit zwei Jahren bettlägerig, so schwach, dass ihn schon kleinste Anstrengungen wie Zähneputzen unendlich viel Kraft kosteten. Muskel- und Kopfschmerzen waren seine ständigen Begleiter. Auch der „Brain Fog“ (Deutsch: Gehirnnebel) quälte ihn, er konnte sich schlecht konzentrieren, hatte Wortfindungsstörungen.
Die Überempfindlichkeit auf Sinnesreize traf ihn mit voller Wucht. Er ertrug kein Licht, keine Geräusche, keine Gerüche, keine hohen Temperaturen. Das Fenster zu seinem Zimmer blieb verschlossen, weil er selbst Straßengeräusche nicht ertragen konnte. Der Raum lag in tiefer Dunkelheit. Dennoch trug er meist Augenmaske und Gehörschutz. Falls der Pflegedienst plötzlich die Tür öffnete, wollte er gewappnet sein.
„Wenn es ein guter Tag ist, schaffe ich es abends ein paar Minuten Radio zu hören, damit ich wenigstens noch etwas von der Welt mitbekomme“, berichtete er. Ansonsten waren Dunkelheit und Stille seine Begleiter rund um die Uhr.
Unser erstes Interview führen wir im Flüsterton, mit vielen Pausen. Trotzdem hat ihn das Gespräch so angestrengt, dass er weitere Anfragen zu Interviews und einem Podcast ablehnen muss. Obwohl er sie gerne gegeben hätte, denn das war sein Anliegen: Menschen aufmerksam machen auf diese schreckliche Krankheit, die immer mehr um sich greift und dennoch so wenig Beachtung in der Öffentlichkeit findet.
Aber am Ende fehlte ihm auch dazu die Kraft. Sein Leben fand er nicht mehr lebenswert. Abhängig von diesem Körper, der sich gegen so viele Dinge wehrte, die er gerne getan hätte. Abhängig von anderen, die ihm vorgaben, wann er zu essen hatte, wann es Zeit für Pflege war, auch wenn der momentane Krankheitszustand das eigentlich gerade nicht zuließ. „Ich habe mir so ein Leben nicht vorstellen können“, sagt er.
Und so traf er eine Entscheidung, die ihm sehr schwerfiel, aber in seinen Augen die einzige Lösung war: Er wollte sein Leben selbstbestimmt beenden. Seit 2020 ist der begleitete Freitod in Deutschland erlaubt. Marc Kirch entschied sich für diesen Weg mithilfe der Deutschen Gesellschaft für humanes Sterben.
„Für mich eine Erlösung“
14 Tage vor seinem Todestag bricht er alle Kontakte ab, verabschiedet sich in einer letzten Mail von den wenigen verbliebenen Freunden und bittet um Verständnis für seine Entscheidung. Die erfährt er nicht von allen, was ihn traurig stimmte. „Die Menschen, die sagen, ich solle weiter kämpfen, stecken aber nicht in meiner Haut. Ich glaube, wenn ein gesunder Mensch auch nur zwei Tage so leben müsste wie ich, würde er durchdrehen“, ist er überzeugt.
Seine letzten Tage möchte er ungestört nutzen, sich auf den Tod vorbereiten. „Ich will noch genug Kraft haben, um das Rädchen aufzudrehen“, sagt er und meint damit das Mittel, das er sich mit ärztlicher Begleitung selbst per Infusion verabreichen wird.
Mit uns führt er noch ein letztes Telefonat, einen Tag vor seinem Tod. „Ich merke, dass ich kribbelig werde“, sagt er. Er wirkt entschlossen. Seine Entscheidung stehe fest. „Angst vor dem Sterben und dem Tod habe ich nicht. Der Tod wird für mich eine Erlösung sein.“ Nur vor dem, was danach kommt, fürchte er sich ein bisschen. „Denn das weiß man ja nicht.“
Im Krankentransport geht es am 17. September für ihn nach Berlin. Eine beschwerliche letzte Reise für den Mann, dem auch kleinste Berührungen Schmerzen verursachen. Doch er muss sie auf sich nehmen. In seinem Zimmer in dem Bernauer Pflegeheim den Weg in den Freitod zu gehen, wurde ihm untersagt. Aus Rücksicht auf die anderen Patienten heißt es von der Heimleitung.
Er versuchte lange, Räumlichkeiten zu finden. „Alle haben abgelehnt. Bis auf Helena. Darüber bin ich so dankbar.“ Helena Giuffrida hat das Atelier Magnolia Bestattungen in Berlin gegründet. „Ich habe Marc in seinem Heim besucht und gesehen, in welcher Lage er war. Deshalb habe ich mich mit ihm auf diese Reise begeben, die für mich auch eine neue Situation bedeutete. Ich kann seine Entscheidung verstehen und finde es gut, dass es die Möglichkeit des begleiteten Freitods gibt. Das möchte ich unterstützen.“ Sie bot ihm den Raum, obwohl sie seine Bestattung anschließend gar nicht vornahm.
Marc Kirch hatte unserer Redaktion angeboten, seinen Tod zu begleiten. Er wollte, dass die Menschen sich auch davon ein Bild machen können. Doch die begleitende Ärztin lehnte seinen Wunsch ab.
Er habe auf sie einen gefassten Eindruck gemacht, berichtet uns stattdessen Bestatterin Helena Giuffrida von den letzten Minuten von Mark Kirch. Nach abschließenden Gesprächen mit dem Juristen und der Ärztin habe diese den Zugang mit dem Narkosemittel mit Überdosierung gelegt. Der 51-Jährige konnte das Ventil selbst aufdrehen und sei nach wenigen Minuten friedlich eingeschlafen.
Es fehlt an der richtigen Hilfe
Unsere Berichterstattung über Marc Kirchs Geschichte hat viele Reaktionen ausgelöst. Betroffene sind erfreut, dass endlich mehr über die Krankheit aufgeklärt wird. Aber es gibt auch Bedenken, weil wir über Marc Kirchs Entscheidung für den Freitod berichtet haben. Es dürfe nicht der Anschein erweckt werden, dass dieser für an ME/CFS-Erkrankte eine erstrebenswerte Lösung sei, sagt uns Gerhard Heiner. Auch sein Sohn ist erkrankt. Heiner ist Sprecher der Initiative ME/CFS in Freiburg und stand zuletzt in engem Kontakt mit Marc Kirch.
„Es darf nicht verschwiegen werden, dass es sich um einen der größten medizinischen Skandale unserer Zeit handelt, dass der Betreffende wegen fehlender medizinischer Hilfe, falscher Pflege und einer fehlenden reizausschließenden Umgebung seinem Leben ein Ende setzen wollte, weil es ihm nicht möglich war, die Qualen seiner Erkrankung ohne Hoffnung auf Besserung zu ertragen“, macht er deutlich.
Eine ebenfalls erkrankte Userin schreibt uns, dass schwerst Betroffene in eine solche Entscheidung getrieben werden, weil sie sich von Politik und Gesellschaft im Stich gelassen fühlen. „Es gibt kaum Forschung, kaum Medikamente, keine Versorgungszentren, jede Menge unwissende Ärzte, die einen psychisch abstempeln.“ Medikamente würden von den Krankenkassen oft nicht gezahlt, statt dessen hieße es: „Versuchen Sie es mit Ruhe und Meditation“. Für viele ein Schlag ins Gesicht.
Eine andere Frau erzählt uns, ihre zwei Kinder hätten starke Erschöpfungsanzeichen gezeigt, die Tochter habe unter wiederkehrenden Ohnmachtsanfällen gelitten. Monatelang hätten verschiedenste Ärzten nach der Ursache gesucht. Am Ende hieß es, die Leiden ihrer Kinder müssten eine psychosomatische Ursache haben. Sie gab nicht auf, ließ weitere Untersuchungen durchführen. Inzwischen hat sie eine gesicherte Diagnose: Beide Kinder sind von ME/CFS betroffen.
Erkrankte fühlen sich im Stich gelassen
Betroffene wie Marc Kirch fühlen sich im Stich gelassen. Denn die Forschung steckt in den Kinderschuhen. Ex-Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) warf der Bundesregierung jüngst „Staatsversagen“ bei der Erforschung der Krankheit vor. Nach seinen Angaben streite die Koalition darum, ob man für die Forschung zehn oder 15 Millionen Euro bewillige. Nötig wären aus seiner Sicht eine Milliarde Euro.
Marc Kirchs Kampf gegen die Krankheit ist beendet. Sein Engagement wird über seinen Tod hinaus weitergehen, durch seine Geschichte, durch seinen mithilfe Künstlicher Intelligenz produzierten Song, mit dem er vor allem für die jungen Erkrankten etwas erreichen will. Seinen letzten Appell richtet er an die Politik, die die erforderlichen Mittel für die Forschung bereitstellen kann. „Wir Erkrankten wollen nicht leiden. Wir wollen gesund werden, uns wieder mit Freunden treffen, in den Wald gehen, auf dem Balkon die Sonne genießen.“ Das sei mit der Krankheit nicht möglich. „Also unternehmt bitte alle etwas. Jetzt!“
Marc Kirchs Kampf gegen die Krankheit ist beendet. Sein Engagement wird über seinen Tod hinaus weitergehen
Wir Erkrankten wollen nicht leiden. Wir wollen gesund werden, uns wieder mit Freunden treffen. Marc Kirch an ME/CFS-Erkrankter