Symbol für Freiheit
Ein Schaukasten im Obergeschoss des Museums Barberini in Potsdam ruft Kindheitserinnerungen wach: ein holzgeschnitztes Tier mit üppiger Mähne, sein gedrechseltes Horn angriffslustig auf einen mit Schild und Speer bewaffneten Gegner gerichtet. Der lenkt den Angreifer listig zu einem Baum, in dem das Horn am Ende steckenbleibt. Dieses plastische Diorama aus dem Erzgebirge visualisiert eine Szene aus dem Grimm’schen Märchen „Das tapfere Schneiderlein“. Sie belegt, dass das Einhorn nicht erst im 21. Jahrhundert als Spielzeug in die Kinderzimmer eingezogen ist, sondern schon zuvor durch die Fantasiewelten galoppierte.
Erstmals geht die kunsthistorische Ausstellung „Einhorn. Das Fabeltier in der Kunst“ der Geschichte und Ikonografie des Einhorns über mehr als 4000 Jahre nach. Zu sehen sind rund 150 Arbeiten von internationalen Leihgebern, neben Gemälden und Tapisserien auch illuminierte Manuskripte, Zeichnungen, Druckgrafiken und Plastiken, die Michael Philipp, Chefkurator des Barberini, in über sechs Jahren Recherche zusammengetragen hat. Die Schau ist eine Kooperation mit dem Musée de Cluny in Paris, wo auch die zweite Station sein wird. In dem Pariser Museum ist der berühmte Tapisserie-Zyklus „Dame mit dem Einhorn“ eine Hauptattraktion. Der Zyklus blieb in Paris, nach Potsdam ausgeliehen wurde ein kleinerer Wandteppich mit dem Heiligen Stephanus, der von einem Einhorn bewacht wird. Das Werk gehört zu den zahlreichen Arbeiten, die erstmals ihren Aufbewahrungsort verlassen haben, um die Potsdamer Einhorn-Ausstellung zu bereichern, wie Ortrud Westheider, Direktorin des Barberini, betont.
Ursprünge liegen im Dunkeln
So auch das einzige Porträt eines Einhorns, das aus Schwerin kommt und als monumentales Bild zum Auftakt die Besucher begrüßt, 1572 gemalt von dem flämischen Künstler Maerten de Vos. Das Fabeltier, dessen reale Existenz um diese Zeit noch nicht angezweifelt wurde, ist kämpferisch und wehrhaft dargestellt, mit dem Kopf eines Hirschs, dem Körper eines Pferdes, einem Ringelschwanz wie bei einem Schwein und Elefantenfüßen. Darin folgt der Maler der Beschreibung des römischen Gelehrten Plinius, dessen Naturkunde aus dem 1. Jahrhundert lange als Referenz für die Darstellung von Einhörnern galt.
Flankiert wird das Gemälde von zwei Arbeiten der Fotokünstlerin Marie Cécile Thys, die mit einem weißen und einem schwarzen Einhorn auf das Symbol der Reinheit anspielt. Ein weiterer Höhepunkt in diesem Raum ist ein Wandteppich mit Jagdszenen aus dem 15. Jahrhundert, der aus der St. Gotthardkirche in Brandenburg stammt und im Zentrum ein Einhorn zeigt, das sich auf den Schoß Marias gerettet hat. Das wertvolle Stück gehört zu den Objekten, die eigens für die Ausstellung restauriert wurden.
Die Ursprünge des Einhorn-Mythos liegen im Dunkeln. Erste Legenden entstanden im indischen Raum und kamen über Persien und Alexandrien nach Europa. Aber auch in China breiteten sich vor mehr als 3000 Jahren Bildnisse des Fabeltiers aus. Das älteste Objekt der Ausstellung ist ein kleines Keramiksiegel mit Einhorn aus dem heutigen Pakistan, um 2000 vor Christus.
Erfahrbar werden die vielfältigen Zuschreibungen des Einhorns: Als Symbol für Freiheit und Unbezähmbarkeit dient es queeren Soldaten der ukrainischen Armee als Wappentier. Im Christentum wandelte sich die Vorstellung vom kämpferischen Einhorn zu einem Symbol für Christus und Zeichen von Keuschheit. Zahlreiche Bildnisse zeigen das Einhorn, dessen Kopf sich in den Schoß einer Jungfrau schmiegt, dem Sinnbild für Maria.
Das Horn des Fabeltieres gab immer wieder Rätsel auf. Erst im 17. Jahrhundert wiesen Naturforscher als Quelle den Narwalzahn nach. Pulverisiert wurde er als „Einhornpulver“ in Apotheken vertrieben, und bis heute führen zahlreiche Apotheken das Tier im Titel. Die heilende Wirkung leitete man aus dem Mythos ab, das Einhorn könne mit seinem Horn Wasser reinigen, wie es illustrierte Miniaturen mittelalterlicher Manuskripte zeigen.
Wie begehrt Einhorn-Objekte – und insbesondere sein Horn – bei Fürsten und wohlhabenden Bürgern waren, zeigt die Schau mit einer diskret ausgeleuchteten Kunst- und Wunderkammer. Dort ist der berühmte Narwalzahn St. Denis aus dem Musée Cluny ein Highlight neben Trinkpokalen sowie Meisterwerken der Elfenbeinkunst, darunter der sogenannte Rothschild Olifant.
Neue Welle der Begeisterung
Mit der Enttarnung des Einhorns als Fabeltier verlor es an Bedeutung. Erst im späten 19. Jahrhundert setzte eine neue Welle der Einhorn-Begeisterung in der Kunst ein, die bis heute anhält. Das zeigen Gemälde von Symbolisten wie Arnold Böcklin, Gustave Moreau und des US-Amerikaners Arthur B. Davies, der 1906 vier Einhörner mit weiblichem Akt in eine Fantasielandschaft stellt. Ein Blick auf die zeitgenössische Rezeption des Einhorns in der Kunst beweist, dass es heute vor allem Frauen sind, die sich dem Motiv zuwenden.
Ausstellung bis 1.2.2026, Mo/Mi–So 10–19 Uhr, Museum Barberini, Alter Markt, Humboldtstr. 5–6, Potsdam, www.museum-barberini.de
Ausstellung Auf den Spuren eines magischen Phantoms – das Museum Barberini in Potsdam zeigt das Einhorn als Motiv in Kunst und Kultur.
Viele Apotheken führen das Einhorn im Titel – ihm wurden heilende Kräfte zugeschrieben.