Faszination Abgrund

  • Stefan Kegel. Thomas Koehler/photothek.net

Noch kann man sich hierzulande mit leichtem Grusel dem politischen Drama um die Regierungsbildung im Nachbarland hingeben. Aber die Krise hat das Potenzial, auch Europa mitzureißen.

Die Faszination des politischen Abgrunds entfaltet vor allem aus der Ferne ihre Wirkung, wenn man noch nicht selbst betroffen ist. Wer Deutschland gegenwärtig schon in schwerem Fahrwasser wähnt, sollte nach Frankreich schauen. Dort bietet die politische Klasse ein Schauspiel, das schon längst seine komödienhaften Züge verloren hat. Im Gegenteil, es könnte sich zu einer Tragödie auswachsen, die ganz Europa erfasst.

Vier Regierungschefs hat Frankreichs Präsident Emmanuel Macron seit der Parlamentswahl im vergangenen Jahr verschlissen, ohne dass die politische Blockade zwischen den drei Lagern Links, Mitte und Rechts gelöst worden wäre. Währenddessen driftet sein Land mit seiner schwächelnden Wirtschaft und einer Schuldenlast von fast dreieinhalb Billionen Euro weiter auf die Unregierbarkeit zu. Reformen sind undenkbar, solange sich die politischen Kontrahenten nicht auf Kompromisse einigen können. Und das ist schwer, denn mit Koalitionsregierungen von Parteien aus unterschiedlichen Lagern hat Frankreich so gut wie keine Erfahrung. Momentan eint die beiden stärksten Blöcke Links und Rechts nur die Forderung, keine Abstriche am Sozialstaat hinnehmen zu wollen. Macrons Rentenreform hat schon Unmut ausgelöst, Sparanstrengungen oder Maßnahmen, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln, lehnen sie ab – und wollen nun auch die neue Ministerriege von Regierungschef Sébastien Lecornu zu Fall bringen.

Damit stünde Frankreich als eine der einstigen Lokomotiven der Europäischen Union mehr oder weniger still. Und genau das ist es, was das Land und die EU zurzeit am wenigsten brauchen können. Denn bei einer fortgesetzten Lähmung droht eine Schuldenkrise wie vor anderthalb Jahrzehnten mit Griechenland, nur in viel bedrohlicherem Maßstab. Auch in anderen Fragen wird ein aktives Frankreich gebraucht, von der Wirtschaft über die europäische Verteidigung bis hin zum Nahost-Konflikt.

Die Frage ist nur: Wie kann das Land aus diesem Dilemma herausfinden? Falls Lecornu erneut scheitert, bleiben Macron im Grunde nur zwei Schritte: eine erneute vorgezogene Parlamentswahl wie 2024 oder sein eigener Rücktritt. Letzterer würde an den Mehrheitsverhältnissen im Parlament nichts ändern. Eine Parlamentswahl hingegen könnte zwar für Klarheit sorgen – aber sicher ist das nicht. Sie könnte im Gegenteil die Zersplitterung auch zementieren.

Für Deutschland tut sich nun eine Herausforderung auf, und gleichzeitig eine Chance. Kamen Impulse für die Entwicklung Europas in den Merkel-Jahren und der Ampel-Zeit zumeist aus Paris, könnte nun Friedrich Merz die Initiative ergreifen und als Taktgeber die ohnehin anvisierte Führungsrolle Deutschlands in Europa stärken. Das dürfte allerdings schwieriger getan als gesagt sein. Denn Deutschland knabbert zurzeit selbst an enormen Problemen herum, die alle Aufmerksamkeit des Kanzlers beanspruchen. Und falls Frankreich tatsächlich ins Trudeln geriete, käme noch ein weiteres hinzu. Die Faszination des Abgrunds könnte sich dann schnell in ein Schreckensbild wandeln.

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Eine der einstigen Lokomotiven Europas steht mehr oder weniger still. Das kann die EU nicht brauchen.

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