„Die Vielfalt ist unser Klebstoff“

  • Ist fasziniert vom deutschen Brauchtum: Autor Wladimir Kaminer Dominik Butzmann
  • „Das geheime Leben der Deutschen“, Wunderraum, 224 Seiten, 24 Euro Penguin Verlag

Mit viel Humor erkundet Wladimir Kaminer (58) seit 25 Jahren die deutsche Volksseele. Seine Geschichten haben einen ganz eigenen Sound. In seinem neuen Buch enthüllt der in Berlin und Brandenburg lebende Bestsellerautor russisch-jüdischer Herkunft auf charmant-witzige Art „Das geheime Leben der Deutschen“.

Herr Kaminer, Ihr Bestseller „Russendisko“ wird 25 Jahre alt. Wie wurden Sie zum Autor?

In jedem zweiten Haus in Ost-Berlin bildeten sich in der Wendezeit irgendwelche Diskussionsforen, Clubs oder Theatergruppen. Dort habe ich über lustige Sachen in der Sowjetunion referiert. 1995 bot mir ein „taz“-Redakteur eine Kolumne an. Ich fragte, worüber ich denn schreiben solle. „Egal“, meinte er, „Hauptsache in deiner Art. Schreib’ doch über Weihnachten bei den Russen!“ Davon handelte meine erste Kolumne. Dann habe ich gemerkt, dass ich viele Geschichten vergesse, weil immer etwas Neues kommt. Damit es nicht passiert, habe ich angefangen, sie aufzuschreiben. So entstand „Russendisko“.

In Ihrem neuen Buch, „Das geheime Leben der Deutschen“, heißt es philosophisch: „Um die Welt zu verstehen, musst du nicht das Ende der Welt suchen, sondern die Stelle, wo sie anfängt“. Ist das der Schlüssel zu den wahren Abenteuern?

Ich bin seit „Russendisko“ sehr aktiv in Deutschland unterwegs. Ich besuche jährlich 120 bis 150 Städte. Und immer wieder kommen neue dazu. Ich kenne niemanden, der so viel durch Deutschland reist und ins Gespräch kommt mit den Menschen. Ich habe auch Dokumentarfilme gemacht über deutsche Traditionen und Bräuche. Was ich alles gesehen und erlebt habe, das musste ich einmal aufschreiben.

Zugereiste, die Sie bei der Recherche zum Buch trafen, empfinden Deutschland wahlweise als „absolutes Traumland“, „perfektes Urlaubsland“ oder als „Land von Rittern und schönen Damen“.

Ich habe mich schon gewundert, was für verrückte Vorstellungen Ausländer von Deutschland haben. Aus welchen Romanen haben sie das nur? Aber inzwischen weiß ich, das alles gibt’s wirklich. Ich war gerade unterwegs auf der Deutschen Märchenstraße. Wie viele Burgen, Schlösser und tolle Ruinen es da gibt! Ich war auch auf dem Rapunzelturm am Reinhardswald. Ganz oben arbeitet Rapunzel in Teilzeit. Es kommen Touristen ohne Ende, vor allem aus China, um einmal mit Rapunzel ein Selfie zu machen.

Sie haben mehrere Jahre lang Ihre Urlaube nur in Deutschland verbracht. Was macht die deutsche Seele aus?

Es wird immer so dargestellt, als sei „Russendisko“ mein bislang größter Bestseller. Aber „Mein Leben im Schrebergarten“ hat sich in Deutschland noch besser verkauft. Und da ist wahrscheinlich die deutsche Seele zu Hause: In einem kleinen, ordentlichen Garten, wo keine Regierung, sondern eine einheimische Prüfungskommission das Sagen hat.

Sie schreiben über Hermann, den Cherusker, einst eine bedeutende Identifikationsfigur der Deutschen. Heute ist eher Udo Lindenberg eine Identifikationsfigur.

Natürlich hat Deutschland wie jedes Land eigene Stars, jüngere und ältere. Aber am stärksten identifizieren sich die Leute nicht mit Stars, sondern mit ihrer kleinen Heimat. Ich war zum Beispiel bei Schuhplattlern und Dirndldrahn im tiefsten Bayern. Fragen Sie da mal nach Udo Lindenberg! Den kennen die nicht.

Welche Identifikationsfiguren gibt es dort?

Das sind eher Gegenstände. Etwa die Lederhosen des Urgroßvaters. Der Urgroßvater war zu seiner Zeit der beste Schuhplattler, weswegen Neugeborene immer Sepp genannt werden. Damit sie die Initialen auf den Lederhosen nicht umnähen müssen. Man darf die ja nicht kaputt machen.

In der 3sat-Reihe „Kaminer Inside“ und im neuen Buch machen Sie sich ein Bild vom Brauchtum. Im bayerischen Greimharting etwa haben Sie dem örtlichen Trachtenverein einen Besuch abgestattet. Wie erklären Sie sich die Auferstehung des Dirndls und der Lederhose gerade unter jungen Menschen?

Auf jeden technologischen Sprung folgt eine große Lebensveränderung. Seit der Entstehung der digitalen Welt rasen wir mit einer unglaublichen Geschwindigkeit in die Zukunft. Das geht viel zu schnell für die Menschen. Sie können ja nicht fliegen, sie brauchen schon Boden unter den Füßen. Deswegen suchen sie sich immer etwas, an dem sie sich festhalten können. Und wenn das Lederhosen sind.

Sie sind fasziniert von Volksfesten mit skurrilen Traditionen wie dem Dreckschweinfest in Hergisdorf. Warum feiern die Deutschen so gern „Orgien auf dem Land“?

Das sind keine Orgien, ich bitte Sie! Das ist das Dreckschweinfest in Hergisdorf bei Eisleben, das älteste Dreckschweinfest Europas. Dass Europa nichts davon weiß, ist sein Problem und nicht das von Sachsen-Anhalt. Die Leute dort haben mehrmals versucht, ihr Dreckschweinfest beim Unesco-Weltkulturerbe anzumelden. Aber die Unesco-Delegation kam immer zu spät dahin. Bei deutschen Traditionsfesten muss man halt zeitig da sein.

Können Sie die Faszination der Deutschen für ihre Traditionen nachvollziehen?

Jeder hat heutzutage sein eigenes Internet, seine eigene Musik im Telefon. In dieser Zeit ist es von großer Wichtigkeit, dass Menschen rauskommen und sich mit anderen an einen Tisch setzen. In diesem Buch beschäftige ich mich auch mit der Frage, was die Menschen noch zusammenbringt. Zum Dreckschweinfest kommen Leute eigens zurück in die Heimat. Einfach nur, um mit den Nachbarn zusammen ins Schlammloch zu springen.

Das erinnert an das Wacken Open Air. Dort strömen Tausende Heavy-Metal-Fans in den schlammigen Bereich vor den Bühnen.

Lachen sie dabei oder sind sie ernst?

Sie lachen dabei.

Okay, das ist etwas anderes. Weil das Dreckschweinfest schon eine ernste Angelegenheit ist. Es geht dabei um die Vertreibung von Winterdämonen.

Was hält Deutschland im Innersten zusammen?

Ich glaube, dass gerade diese Vielfalt Deutschland zusammenhält. Der Umstand, dass man sich ständig vergleichen kann. Wenn es zwischen Sachsen, Rheinländern und Friesen keinen Unterschied geben würde, könnte dieses Land nicht existieren. Aber gerade dadurch, dass so unterschiedliche Kulturen neben- und miteinander leben, entsteht der Klebstoff, der Deutschland zusammenhält.

Versuchen Sie, mit Ihrem Schreiben auch die „russische Seele“ zu erfassen?

Von dieser geheimnisvollen russischen Seele habe ich erst in Deutschland gehört. Es gab hier schon früher solche falschen Russen wie Ivan Rebroff, die große Popularität besaßen. Er sang „Gieß’ mir einen Wodka ein, aber nicht zu klein. Hey!“ auf Deutsch und hieß eigentlich Hans Rippert. Aber das hat niemanden gestört. Die Russen selbst sehen sich nicht so geheimnisvoll, sondern ähnlich wie in Deutschland, eine alternde Nation. Putin ist jetzt schon über 70. Egal wie gut seine Gene sind, ein ewiges Leben wird er nicht bekommen. Und ohne ihn wird dieses Regime keine Fortsetzung haben. Was kommt danach? Das Schlimme an den Autokratien ist, dass sie immer im Chaos enden.

Wenn Sie die Grundstimmung in diesem Land in einen Satz fassen müssten, welcher wäre das?

Alles ist kaputt, nichts funktioniert hier – von Impfungen bis Demokratie, und das Bier wird immer teurer. Die Menschen meckern gern und zu Recht auch. Aber das ist eine vorübergehende Erscheinung. Ich glaube, wir sollten uns ein bisschen entspannen. Es wird schon werden.

Interview Autor Wladimir Kaminer spricht über sein neues Buch „Das geheime Leben der Deutschen“, über Dirndl und Lederhosen, skurrile Traditionen, vermeintliche Orgien auf dem Land und falsche Russen.

Am stärksten identifizieren sich die Leute nicht mit Stars, sondern mit ihrer Heimat. Wladimir Kaminer Schriftsteller

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